Artikel: 272 Tage Milch gepumpt für Pippilotta und die Milchspende

HAMBURG — 20. Dezember 2020 

Eigentlich sollte Pippilotta im Frühling geboren werden, aber draußen schneite es heftig, als Franziska und ihr Freund Sebastian sie am 28. Januar 2020 zum ersten Mal sahen. Im Arm halten durften sie sie erst eine Woche später, denn Pippilotta hatte einen schweren Herzfehler.  Ihre Eltern bangten monatelang um ihr Leben und waren immer bei ihr in der Klinik, wenn es möglich war (und manchmal, wenn es eigentlich nicht möglich war). Am 24. Oktober verstarb Pippilotta.

Für Franziska, selbst Ärztin, war klar, sie wollte ihre Tochter mit Muttermilch ernähren: „Ich komme aus einem sehr gesundheitsbewussten Ärztehaushalt und bin damit aufgewachsen, dass Stillen total wichtig ist. Ich habe immer geglaubt, dass das mit Unterstützung in Familie und Krankenhaus auch gut klappt. Dieser Glaube hat mir sehr geholfen, das in der Stresssituation wirklich hinzukriegen.“

Trotz der Sorgen um Pippilotta, konnte Franziska täglich etwa 750 ml Milch abpumpen. Sie erinnert sich: „Ich hatte viel mehr als die 200ml, die Pippilotta anfangs trinken durfte, also einen riesigen Milchüberschuss. Judith, Fachkinderkrankenschwester und Stillberaterin auf der Station, hat mir empfohlen, jeden Tag so viel mehr abzupumpen, um gut in die Laktation zu kommen und langfristig genug Milch zu haben für später, wenn Pippilotta größer wird und mehr trinken kann. Als bei uns zu Hause die Kühltruhe voll war, haben wir noch eine zweite über Ebay gekauft.“ 

Franziska hatte schon bald den Wunsch, dieses „Mehr“ an Milch zu spenden. Sie berichtet: „Ich war in den Stillzimmern von insgesamt vier Stationen und hab mitgekriegt, dass wir alle kämpfen um unsere Kleinen und dass das oft unglaublich schwierig ist für uns Frauen. Mir hat es in der Seele wehgetan Mütter zu sehen, die stillen wollten und es nicht konnten. Eine Mutter bekam eine Chemotherapie und durfte natürlich nicht stillen. Und ich saß daneben und hatte Milch! Wenn es auf der einen Seite Ressourcen gibt und auf der anderen Bedarf, dann träum ich doch von der heilen Welt, in der das eine das andere ausgleicht.“

Franziska hat viele Liter Milch an die Frauenmilchbank am Klinikum Wolfsburg gespendet.

Aber die Frauenmilchbank am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf (UKE) konnte Franziskas überschüssige Milch nicht annehmen, denn diese Milchbank verfüttert nur rohe Milch, und die dafür nötigen Voraussetzungen erfüllen viele Frauen nicht. Rohe Milch enthält besonders wertvolle immunologische Stoffe. Um mehr Milch verfügbar zu machen, wird vielerorts gespendete Frauenmilch pasteurisiert. Viele Frauenmilchbanken in Deutschland haben rohe und pasteurisierte Milch, andere verfüttern ausschließlich rohe oder pasteurisierte Milch. Franziska gab nicht auf. Sie lacht:

„Unter Stress kommen ja alte Muster wieder hoch. Also war da bestimmt auch als eine Motivation: ‘nichts verkomme lasse’ – das sagt meine Mutter immer, die kommt aus Süddeutschland. Verschwendung von etwas so Wertvollem hätte innere Konflikte erzeugt. So weit irgend möglich wurde der Stress gelindert durch die enorm wertvolle Solidarität in den Stillzimmern. Natürlich lag da der Gedanke total nahe: Ich hätte mich für Pippilotta tierisch gefreut, wenn auch für sie Spenderinnenmilch zur Verfügung gestanden hätte,  wenn unter all dem Stress, dem Pumpstillen oder aus irgendeinem anderen Grund meine eigene Milch versiegt wäre. Wenn ich das Glück habe, dass das Pumpstillen bei mir erfolgreich ist, dann gebe ich natürlich Milch an meine Schicksalsschwestern ab!“

Nachdem sie den Flyer der Frauenmilchbank-Initiative im Stillzimmer gesehen hatte, telefonierte Franziska also in den wenigen freien Minuten Milchbanken in anderen Städten ab. „In Wolfsburg brauchten sie dringend Milch, aber wegen Corona konnten sie damals nichts annehmen. In unsere Gefriertruhen passte aber überhaupt nichts mehr und so habe ich insgesamt ungefähr 20 Liter an die Firma Ammeva gespendet, die Frauenmilch gefriertrocknet und die Spenden gern genommen hat.“

Ende September waren die Gefriertruhen wieder voll und die Klinik in Wolfsburg konnte zum Glück wieder Spenderinnenmilch annehmen. „Zusammen mit zwei Freundinnen haben wir die gefrorene Milch verpackt, damit sie den Transport gut übersteht. Das gemeinsame Tüfteln war fast ein Happening, diese Abwechslung und Solidarität tat auch gut. Die Milchbeutel kamen in Kartons mit Coolpacks drum herum und darum kam eine Schicht aus Plastikbeuteln mit flach gefrorenem Wasser. Dann haben wir alles in Decken und Verpackungsmaterial eingewickelt, das wir am Tag davor von einer Firma besorgt hatten, die es übrig hatte.“

Die Kliniken in Hamburg und Wolfsburg haben eng kooperiert, um die Milchspende für Franziska so einfach wie möglich zu machen. Sie erklärt: „Das UKE in Hamburg hat alle nötigen Untersuchungen gemacht und die Ergebnisse rübergefaxt.“

Es gab Zeiten, da war es der Gedanke an die Milchspende, der Franziska geholfen hat, weiter jeden Tag abzupumpen. Eine zeitlang durfte Pippilotta keine Muttermilch bekommen, weil sie das Fett in der Milch nicht vertrug. Jemand aus dem medizinischen Team erinnerte sich an eine andere Mutter, die ihre Milch mit einer Zentrifuge für ihr Kind entfetten ließ. Das wurde dann auch auf Pippilottas Station umgesetzt – eine Premiere. Aber Franziska wusste mehrere Tage nicht, ob es vielleicht Monate dauern würde, bis Pippilotta ihre Milch wieder trinken dürfte. Sie erinnert sich an diese Zeit:

Muttermilch für Pippilotta

Muttermilch für Pippilotta

„Es gab mir schon ein Stück Sicherheit zu wissen, es gibt neben Pippilotta noch einen anderen Grund, jeden Tag Milch abzupumpen. Wenn ich für den Ausguss gepumpt hätte, hätte die Milchproduktion unter solchem Stress und Sorgen wahrscheinlich nicht mehr funktioniert. Nicht ausgebremst zu sein, sondern als großes Team alle Möglichkeiten auszuschöpfen für Pippilotta und alle anderen Babys, das ist greifbare Solidarität, gemeinsame Werte, gelebter Sinn und so viel Selbstwirksamkeit wie möglich in der unmöglichen Situation. In diesem Sinne war auch der Gedanke an die Milchspende eines der Geheimnisse, warum das Pumpstillen über so lange Zeit überhaupt ging, bis zum letzten Lebenstag unserer Tochter.“

Franziska hat Pippilotta durch ihre Milch stärker gemacht, als sie es sonst gewesen wäre. Und ganz sicher gibt es einige Mütter in Wolfsburg, die nicht mehr im Stillzimmer verzweifeln mussten und dankbar sind, dass ihre Kinder Spenderinnenmilch bekommen konnten.

 
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